
Neulinge betreuen, Vandalismus beheben und über Entscheidungen diskutieren – diese Arbeit in der Wikipedia kann sinnstiftend, aber auch emotional belastend sein. Einige Wikipedianerinnen und Wikipedianer erzählten uns, dass andere zu ermutigen und zu unterstützen sie positiver gestimmt hat. Trifft das auch generell zu? Und wenn ja: Ändern Autorinnen und Autoren tatsächlich ihre Meinung über ihre eigene Arbeit auf Wikipedia, wenn sie anderen Beitragenden danken?
Diesen Fragen ist CivilServant (nunmehr das Citizens and Technology Lab) im Jahr 2019 gemeinsam mit 400 deutschen, iranischen und polnischen Wikipedia-Autorinnen und -Autoren nachgegangen. Wir führten Umfragen mit den Teilnehmern durch, beobachteten ihr Verhalten und entwickelten eine App, mit deren Hilfe anderen Autorinnen und Autoren systematisch gedankt werden konnte. Wir arbeiteten mit Verbindungspersonen aus jeder Teilnehmergruppe zusammen, um das Studiendesign zu verfeinern und das Einverständnis aller zu koordinieren.
40 Prozent aller Teilnehmer gaben in unseren Umfragen an, andere betreut zu haben, während 74 Prozent ein Auge auf mutmaßliche Fälle von Vandalismus auf Wikipedia-Seiten hatten. Die Teilnehmer, die mehr Zeit damit verbrachten, andere zu betreuen oder die Enzyklopädie auf Vandalismus zu prüfen, fühlten sich emotional ausgelaugter als andere. Wer mehr prüfte, hatte jedoch auch eine insgesamt ein positiveres Gefühl zu den eigenen Beiträgen.
Unsere Hauptfrage war: Ändert sich das Bild der Wikipedianerinnen und Wikipedianer von ihrer eigenen Arbeit zum Positiven und werden sie mit der Zeit hilfsbereiter, wenn sie anderen Beitragenden systematisch danken? Einen solchen Effekt konnten wir nicht feststellen. Nichtsdestotrotz gewannen wir wertvolle Erkenntnisse darüber, welche Arten von Teilnehmern andere unterstützen, welchen Eindruck sie von den Absichten von Neulingen haben und was sie über ihre eigene Arbeit denken. Hier sind unsere Ergebnisse.
Wer an der Studie teilnahm
Nachdem wir mithilfe von Bannern und Mailinglisten nach Teilnehmern gesucht hatten, meldeten sich 447 Interessenten (286 deutsche, 52 iranische, 62 polnische). Da 47 von ihnen uns anderweitig unterstützen, betrug die endgültige Teilnehmerzahl 400. 238 begannen die Studie und 137 füllten auch die letzte Umfrage aus. Im Schnitt hatten die Teilnehmer ihren Account neun Jahre vor Beginn der Studie erstellt. In den acht Wochen vor der Umfrage investierten sie im Mittel 6,4 Arbeitsstunden in Wikipedia, nahmen 53 Bearbeitungen vor und stellten eine frühere Artikelversion wieder her.
Andere betreuen und Wikipedia beobachten/schützen
In vielen Debatten über Wikipedia treten zwei Lager hervor: das der „Deletionisten“, die Qualitätskontrolle priorisieren, und das der „Inklusionisten“, für die Teilhabe an oberster Stelle steht. Lassen sich die Einstellungen und das Verhalten der Wikipedianerinnen und Wikipedianer ebenfalls grob diesen beiden Lagern zuordnen?
Um das herauszufinden, fragten wir die Studienteilnehmer, wie viel Zeit sie beispielsweise damit verbrachten, neue Inhalte auf Wikipedia hinzuzufügen, kleinere Formatfehler zu korrigieren und an Projekten oder Tools zu arbeiten. Wir baten sie auch darum, auf einer Skala von 0 bis 4 anzugeben, wie viel Zeit sie mit der Betreuung von Neulingen beziehungsweise der Suche nach Vandalismus verbrachten.
Anhand ihrer Antworten unterschieden wir vier Gruppen von Wikipedianerinnen und Wikipedianern: (1) diejenigen, die andere betreuen und Inhalte überprüfen, (2) diejenigen, die nur andere betreuen, (3) diejenigen, die nur Inhalte überprüfen und (4) diejenigen, die keine dieser beiden Aktivitäten angaben.
Um mehr über die Aktivitäten dieser Gruppen auf Wikipedia zu lernen, zeichneten wir auf, wie oft sie in den acht Wochen vor der Umfrage frühere Artikelversionen wiederhergestellt und wie viele Stunden Arbeit sie im Schnitt in die Plattform investiert hatten. Wir zählten auch, wie oft Diskussionsseiten und Namensräume bearbeitet wurden oder wie oft anderen gedankt wurde.
Viele Teilnehmer gaben an, zumindest ein wenig Zeit in die Betreuung von Neuankömmlingen gesteckt zu haben (deutsche: 37 %, iranische: 58 %, polnische: 40 %). Die meisten von ihnen suchten darüber hinaus auch nach beschädigten Inhalten. In jeder Sprachcommunity investierte die Teilnehmergruppe, die sowohl andere betreute als auch Seiten auf Vandalismus prüfte, mehr Arbeitsstunden in Wikipedia als die anderen. Sie nahm auch viel mehr Wiederherstellungen vor und trug öfter zu Diskussionen und zum Support bei als die Gruppe, die nur nach beschädigten Seiten suchte.
durchschnittliche Aktivität im Zeitraum von acht Wochen | durchschnittliche Umfrageangaben (0–4) | |||||
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Summe | Wiederherstellungen | Bearbeitungen auf Diskussionsseiten und Unterstützung | Arbeitsstunden | Kompetenzen der Neulinge | Absichten der Neulinge | |
betreuen & prüfen | 37% | 22.2 | 56.4 | 34.1 | 2.1 | 2.7 |
betreuen ausschließlich | 3% | 30.2 | 36.8 | 16.5 | 3.0 | 2.9 |
prüfen ausschließlich | 37% | 4.2 | 19.0 | 14.7 | 2.1 | 2.7 |
tun weder noch | 23% | 6.8 | 13.2 | 15.8 | 2.0 | 2.8 |
Um die Gültigkeit der Umfrageergebnisse zu bestätigen, verglichen wir sie mit dem Verhalten der Wikipedianerinnen und Wikipedianer in den acht Wochen davor. Laut statistischen Modellen, die die Gesamtzahl der Bearbeitungen als Kontrollwert nutzten, machten die Teilnehmenden, die angaben andere häufiger zu betreuen, 30 Prozent mehr Bearbeitungen auf Diskussionsseiten und gaben Hilfestellungen (p<0,0001; R2=0,67). Des Weiteren stellten die Teilnehmer, die Wikipedia häufiger auf Schäden überprüften, zu 75 Prozent öfter frühere Artikelversionen wieder her (p<0,0001; R2=0,61).
Positive Gefühle und emotionale Erschöpfung
Andere zu betreuen und an Diskussionen teilzunehmen, ist schwer. Viele Mitglieder der englischsprachigen Wikipedia-Community geben Auseinandersetzungen mit anderen als einen der Hauptgründe für ihre Inaktivität auf der Plattform an.
Um einen genaueren Eindruck von diesen Erfahrungen zu erhalten, wandten wir das Maslach Burnout Inventory in angepasster Form an. Dieser Fragenkatalog wurde entworfen, um das Ausmaß an Burn-out bei professionellen Helfern festzustellen. Er misst diverse Burn-out-Faktoren, darunter das Maß an emotionaler Erschöpfung oder das Gefühl von persönlicher Erfülltheit. Wir baten die Wikipedianerinnen und Wikipedianer darum, auf einer Skala von 1 bis 5 anzugeben, inwiefern folgende Aussagen auf sie zutrafen:
- Die Arbeit in der deutschsprachigen Wikipedia laugt mich emotional aus.
- Das Beitragen zur deutschsprachigen Wikipedia gibt mir ein gutes Gefühl.
Die meisten Studienteilnehmer hatten laut Eigenaussage eine sehr positive Meinung von ihrem eigenen Beitrag zu Wikipedia – der Median lag hier bei 4. Etwa 70 Prozent der Teilnehmer gaben an, sich zumindest ein bisschen emotional ausgelaugt zu fühlen, mit einem Median von 2.
Aus unserem statistischen Modell geht hervor, dass diejenigen, die laut Eigenangaben mehr Zeit mit dem Prüfen von Artikeln verbrachten, von einem höheren Maß an emotionaler Erschöpfung berichteten (p<0,0001). Sie hatten auch ein besseres Bild von ihren Beiträgen (p=0,001) als diejenigen, die weniger Zeit in die Überprüfung von Inhalten investierten (R=0,094). Weiterhin stellten wir fest: Die Wikipedianerinnen und Wikipedianer, die andere häufiger betreuten, waren im Schnitt emotional erschöpfter (p<0,001; R2=0,7).

Unsere Forschung ergab, dass die Teilnehmer, die sich emotional ausgelaugter fühlten, sehr viel seltener mit der Studie fortfuhren. Im Schnitt brachen die Teilnehmer, die sich auf der Skala um eine Einheit erschöpfter fühlten, die Studie nach der ersten Umfrage zu sechs Prozent häufiger ab (p=0,005).
Insgesamt hatten die Wikipedianerinnen und Wikipedianer einen positiven Eindruck von ihrer Arbeit, wobei die Teilnehmergruppe, die gleichermaßen betreute und Seiten prüfte, emotional erschöpfter war. Dieses Gefühl kann ein Vorbote dafür sein, dass sie mit der Zeit inaktiver werden. Da unsere zwei Fragen die Komplexität von Burn-out nicht vollständig einfangen, wären weitere Untersuchungen auf diesem wichtigen Forschungsfeld nötig.
Das Dankesagen auf Wikipedia und sein Effekt
Wir wollten hauptsächlich erfahren, ob die Teilnehmer (1) eine andere Meinung zu ihrem eigenen Beitrag bekommen und (2) inwiefern es sich auf ihre in Wikipedia investierte Zeit auswirkt, wenn sie anderen Wikipedianerinnen und Wikipedianern für gut gemeinte Bearbeitungen danken.
Wikipedias „Danke“-Funktion ist ein beliebtes Mittel, um andere zu bestärken. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer in jeder Sprachcommunity hatte bereits in den vergangenen acht Wochen mindestens einer anderen Person gedankt. Somit wurden sprachübergreifend insgesamt 1.720 Dankesbenachrichtigungen verschickt.
Nachdem die erste Umfrage im August abgeschlossen war, baten wir unsere Teilnehmer darum, sich auf einer von uns entwickelten App einzuloggen. Die Hälfte von ihnen sollte dort vorgegebene Listen von Bearbeitungen durchsehen und bis zu vier Wikipedianerinnen und Wikipedianern danken. Der Rest sollte zehn Minuten lang ihren üblichen Aktivitäten auf Wikipedia nachgehen. Von den 400 Teilnehmern, die sich registriert hatten, loggten sich 60 Prozent ein. Acht Wochen später baten wir sie darum, eine letzte Umfrage auszufüllen. Insgesamt führten 137 von ihnen die Studie bis zum Ende durch.


Um herauszufinden, ob dies die Beiträge zu Wikipedia in irgendeiner Form beeinflusst hatte, errechneten wir die Differenz zwischen den Einträgen auf Diskussionsseiten und den Hilfestellungen in den acht Wochen vor und nach dem Versuch. Sprich, wenn eine Person sich vor der Studie zehnmal hilfsbereit verhalten hatte und danach nur noch achtmal, betrug die Differenz am Ende -2. Im Anschluss verglichen wir die Ergebnisse der Test- und der Kontrollgruppe miteinander, um zu sehen, ob der Eingriff mit der Zeit eine Zu- oder Abnahme bewirkt hatte.
Bei den 238 Teilnehmern, die unsere App nutzten, konnten wir keine Hinweise darauf finden, dass die Danksagungen die Anzahl der Diskussionsbeiträge und der Hilfestellungen in irgendeiner Form beeinflusst hätten (p=0,28). Weiterhin scheinen sie bei den 137 Teilnehmern, die die Studie bis zum Ende durchführten, keinen positiveren Eindruck von ihrer eigenen Arbeit an Wikipedia herbeigeführt zu haben (p=0,065). Zu diesem Befund gibt es im Anhang eine zusätzliche Bemerkung unsererseits.
Einschränkungen
Diese Studie unterliegt unter anderem folgenden Einschränkungen:
- Es nahmen erfahrene Mitglieder der deutschen, polnischen und iranischen Wikipedia-Communitys teil. Die allgemeineren Verhaltensmuster innerhalb dieser und anderer Sprachcommunitys könnten daher abweichen.
- Teilnehmer, die von emotionaler Erschöpfung berichteten, brachen die Studie öfter ab. Das war ihr volles Recht und sie standen unter keinerlei Verpflichtung, weiterzumachen. Wir wissen jedoch nicht, ob wir andere Studienergebnisse erhalten hätten, wenn sie dabeigeblieben wären.
- Unsere Stichprobe war kleiner, als wir gehofft hatten. Wäre sie größer gewesen, hätte sich möglicherweise ein Effekt abgezeichnet.
- Ein Großteil der Forschung zu Ausdrücken von Dankbarkeit beschränkt sich auf Kurzzeiteffekte. Auch wenn wir keine langfristigen Auswirkungen entdecken konnten, schließt diese Studie die Existenz kurzfristigerer Effekte nicht aus.
Fazit
Mit dieser Studie wollten wir herausfinden, ob die Wikipedianerinnen und Wikipedianer ihre Arbeit in einem anderen Licht betrachten und sich hilfsbereiter verhalten, wenn sie anderen danken. Für diese Hypothese konnten wir keine Belege finden. Nichtsdestotrotz erfuhren wir eine Menge darüber, welche Community-Mitglieder unterstützendes Verhalten an den Tag legen, was sie von ihrer Arbeit halten und wie sie die Absichten und die Kompetenzen anderer Wikipedianerinnen und Wikipedianer einschätzen.
Danksagungen
Wir möchten den vielen Wikipedianerinnen und Wikipedianern, die uns beraten und unterstützt haben, aus vollem Herzen danken. Den Verbindungspersonen aus unseren Partner-Wikipedias gebührt besonderer Dank: Reem Al-Kashif, Christine Domgörgen, Mohamed ElGohary, Maria Heuschkel, Amir Ladsgroup, Wojciech Pędzich, Mohsen Salek, Natalia Szafran-Kozakowska. Sie haben eng mit uns zusammengearbeitet, die Studie mitgestaltet und uns bis zum Ende betreut. Dieses Projekt ist das Ergebnis ihrer unendlichen Weisheit, Geduld und Hingabe. Des Weiteren danken wir der Wikimedia-Stiftung für ihre Hilfe bei den Genehmigungsprozessen.
Dieses Forschungsprojekt wurde von der Templeton World Charity Foundation gefördert.
Quellen
- Experiment Plan: The Effect of Sending Thanks on Wikipedia
- Konieczny, P. (2018). Volunteer retention, burnout and dropout in online voluntary organizations: stress, conflict and retirement of Wikipedians. Research in Social Movements, Conflicts and Change (Research in Social Movements, Conflicts and Change, Volume 42). Emerald Publishing Limited, 199-219.
- Maslach, C.; Jackson, S.E. (1981). „The measurement of experienced burnout“. Journal of Occupational Behavior. 2 (2): 99–113. doi:10.1002/job.4030020205
- Matias, J.N., Kamin, J., Klein, M. (2019) Kittens, Baklava, and Bubble Tea: How Wikipedians Thank Each Other in Different Languages. Global Voices
- Menking, A., & Erickson, I. (2015, April). The heart work of Wikipedia: Gendered, emotional labor in the world’s largest online encyclopedia. In Proceedings of the 33rd annual ACM conference on human factors in computing systems (pp. 207-210).
Anhang
Da das Versuchsergebnis zu positiven Gefühlen unserer Abschneidegrenze von p<0,05 so nahekam, sehen wir uns verpflichtet, Folgendes zu erwähnen: Bei den Teilnehmern, die anderen Wikipedianerinnen und Wikipedianern danken sollten, ergab sich eine Differenz von -0,2 hinsichtlich der Frage, ob sie ein besseres Bild von ihrer Arbeit an Wikipedia bekommen hatten. Unseren Statistiken zufolge könnte es sich dabei um ein reines Zufallsergebnis handeln. Unter Umständen lohnt es sich, weiter zu diesem Thema zu forschen, auch wenn die Anforderungen an wissenschaftliche Publikationen nicht erfüllt wurden. Eventuell wirkte sich das Durchgehen langer Bearbeitungslisten demotivierend auf die Teilnehmer aus. Außerdem werteten sie möglicherweise ihre eigene Arbeit ab, wenn sie andere belohnten, ohne dass ihnen selbst gedankt wurde.